Nach Jahrzehnten der Forschung und Hunderten kulturübergreifender Studien haben Psychologen beim Menschen eine Reihe kontinuierlich auftauchender Werte nachgewiesen.
Die ersten Wissenschaftler, die sich mit der Motivation für menschliches Handeln auseinandersetzten, entdeckten eine überraschende Kontinuität in den Dingen, die Menschen im Leben für wichtig
erklärten. Nach vielfacher Überprüfung dieser Ergebnisse über Länder- und Kulturgrenzen hinweg konnte so eine Liste immer wieder auftauchender Werte zusammengestellt werden.
Diese Werte treten nun nicht zufällig auf; sie stehen miteinander in Beziehung. Manche werden nur selten von derselben Person zugleich für vorrangig erklärt, während andere oft gleichzeitig
vertreten werden.
Aufgrund dieser Zusammenhänge wurden die Werte auf eine Karte übertragen, wie unten dargestellt. Je näher der „Ort“ eines Wertes einem anderen ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie von
derselben Person als gleich wichtig betrachtet werden. Je weiter jedoch zwei Werte voneinander entfernt sind, desto unwahrscheinlicher ist eine gleiche Einstufung ihrer Wichtigkeit. Das heißt
nicht, dass niemand Sauberkeit und Freiheit gleichzeitig wertschätzen könnte; nur werden die meisten Menschen tendenziell einen der beiden Werte als vorrangig ansehen. Werte haben also Nachbarn
und Gegenspieler. Auf der Grundlage dieser Beziehungsmuster sowie grundlegender Gemeinsamkeiten wurden die Werte dann in zehn Gruppen eingeteilt.
↑ Abbildung 2: Abbildung 2: Statistische Analyse (nichtmetrische multidimensionale Skalierung) der Wertestrukturen von 64.271 Menschen aus 68 Ländern.
Die zehn Wertegruppen lassen sich wie folgt beschreiben:
BLICK AUFS GANZE
VERSTÄNDNIS, WERTSCHÄTZUNG, TOLERANZ UND SCHUTZ FÜR DIE NATUR UND DAS WOHL ALLER MENSCHEN
GEMEINSINN
ERHALTUNG UND FÖRDERUNG DES WOHLS DER MENSCHEN, MIT DENEN MAN HÄUFIGEN PERSÖNLICHEN KONTAKT HAT
TRADITION
AKZEPTANZ, RESPEKT UND ENGAGEMENT FÜR IDEEN UND BRÄUCHE DER TRADITIONELLEN KULTUR UND RELIGION
KONFORMITÄT
UNTERDRÜCKUNG VON HANDLUNGEN, NEIGUNGEN UND IMPULSEN, DIE ANDERE VERÄRGERN, IHNEN SCHADEN ODER SOZIALE ERWARTUNGEN UND NORMEN VERLETZEN KÖNNTEN
SICHERHEIT
GEBORGENHEIT, HARMONIE UND STABILITÄT IN DER GESELLSCHAFT, IN BEZIEHUNGEN UND IN EINEM SELBST
↑ Tabelle 1: Definitionen der zehn Wertegruppen
MACHT
SOZIALER STATUS, PRESTIGE, HERRSCHAFT BZW. KONTROLLE ÜBER MENSCHEN UND RESSOURCEN
LEISTUNG
AUSÜBEN AN SOZIALEN STANDARDS AUSGERICHTETER KOMPETENZ MIT DEM ZIEL PERSÖNLICHEN ERFOLGS
GENUSS
PERSÖNLICHES VERGNÜGEN UND SINNLICHE BEFRIEDIGUNG
ABENTEUER
ANREGUNG, NEUES UND HERAUSFORDERUNGEN IM LEBEN
SELBSTBESTIMMUNG
UNABHÄNGIGKEIT IN GEDANKEN UND TAT – DIE EIGENE WAHL TREFFEN, EIGENES SCHAFFEN UND ENTDECKEN
Einfacher können diese zehn Gruppen in einem Kreisdiagramm, Wertekreis (nach Schalom Schwartz) genannt, dargestellt werden:
↑ Abbildung 3: Schwartzscher Wertekreis
Man kann die zehn Wertegruppen außerdem in zwei Hauptrichtungen kategorisieren, wie gegenüber dargestellt:
1. Ich-bezogene Werte (mit denen persönlicher Status und Erfolg angestrebt werden) im Gegensatz zu Ich-überschreitenden (die sich meist um das Wohl anderer drehen)
2. Offenheit für Veränderung (auf Unabhängigkeit und Bereitschaft zur Veränderung orientierte Werte) im Gegensatz zu Beständigkeit (Werte, bei denen es um Ordnung,
Selbstbeschränkung, Schutz des Überkommenen und Widerstand gegen Veränderung geht)
Ein Großteil der gegenwärtigen Werteforschung läuft auf wenige einfache, intuitiv naheliegende Ideen hinaus: Bestimmte Werte und Motivationen sind oft zusammen anzutreffen, andere weniger. Wer
sich stark um das Wohl anderer sorgt, wird wahrscheinlich kaum großen Wert auf seinen eigenen Status und finanziellen Erfolg legen (und umgekehrt). Wer Genusssucht und Abenteuerlust auf die
Spitze treibt, wird kaum gleichzeitig großen Respekt für Traditionen empfinden. Aber die Forschung zeigt auch, dass diese Zusammenhänge nicht nur unserer Kultur und Gesellschaft eigen sind. Sie
treten mit bemerkenswerter Kontinuität rund um die ganze Welt auf.
Was Werte kennzeichnet
Einige der wichtigsten Merkmale von Werten sind im Folgenden zusammengefasst:
Werte sind universell
Der Wertekreis ist kein astrologischer Tierkreis, die Werte entsprechen nicht irgendwelchen Charaktertypen. Jeder von uns ist von allen diesen Werten motiviert, nur in jeweils verschiedenem
Ausmaß.
An und Aus
Werte können nur zeitweise „eingeschaltet“ sein, nämlich wenn sie durch Kommunizieren oder Erleben ins Bewusstsein gerufen werden. Das kann durchaus unser Denken und Handeln beeinflussen. Zum
Beispiel wird jemand, der gerade an Werte des Gemeinsinns erinnert wird, auf Bitten um Hilfe oder um Spenden mit größerer Wahrscheinlichkeit positiv reagieren. Werte können sich also nicht
nur im Laufe des Lebens wandeln, sondern täglich.
Werte färben ab
Nebeneinanderliegenden Werten wird häufiger von ein und derselben Person der gleiche Stellenwert beigemessen. Werte, die zeitweilig aktiviert sind, neigen sogar dazu, auf ihre Umgebung im
Wertekreis „abzufärben“, indem sie benachbarte Werte und entsprechendes Verhalten befördern. Dieser Zusammenhang kann zu überraschenden Ergebnissen führen. So ist gezeigt worden, dass
Menschen, die an Großzügigkeit, Selbstbestimmung und Familie einnert wurden, häufiger eine umweltfreundliche Politik befürworteten als solche, denen man Status und finanziellen Erfolg
nahelegte – ohne dass die Umwelt an sich überhaupt erwähnt wurde.
Der Wippen-Effekt
Während benachbarte Werte kompatibel sind, werden solche auf gegenüberliegenden Seiten des Kreises selten von einer Person gleichzeitig hochgehalten. Wenn einer dieser Werte zeitweilig
aktiviert ist, neigt er dazu, seine Gegenspieler (und die mit ihnen verbundenen Verhaltensweisen) zu unterdrücken. Wie bei einer Wippe fällt der eine Wert in seiner Bedeutung, wenn der andere
steigt.
Dies wurde vielfach in Experimenten veranschaulicht. So waren Personen, die gebeten wurden, mit Leistung assoziierte Wörter wie „Ehrgeiz“ oder „Erfolg“ in einem Text zu finden, seltener
bereit, einem Wissenschaftler unentgeltlich zu helfen (ein Verhalten, das in den Bereich des Gemeinsinns fällt).
Werte sind keine Charaktereigenschaften
Obwohl die Wörter, mit denen wir Werte beschreiben, im Alltag oft auch verwendet werden, um Eigenschaften oder Wirkungen zu beschreiben, ist es wichtig, hier zu unterscheiden. Ein
Zusammenhang zwischen Motivation und scheinbar folgerichtiger Wirkung kann, muss aber durchaus nicht immer existieren. Nicht alles, was Vergnügen bereitet, muss vom Streben nach Genuss
motiviert sein – Vergnügen kann auch empfinden, wer beliebige andere Werte verfolgt. Und eine mächtige soziale Bewegung kann mehr von den aufs große Ganze zielenden Werten der Gleichheit und
sozialen Gerechtigkeit motiviert sein als von der Macht. Es gibt sogar Beweise, dass Künstler, deren Motivation in ihrer Arbeit liegt – nicht im Streben nach Ruhm und Belohnung oder dem
Wunsch, sich zu beweisen – letztendlich die erfolgreicheren sind. In diesem und ähnlichen Fällen kann Erfolgsdenken als Motivation den Erfolg als Ergebnis erschweren.
Ebenso wichtig ist es, sich über die oft sehr speziellen Definitionen der einzelnen Werte im Klaren zu sein. Das Streben nach „Leistung“ im Sinne von „Ausüben an sozialen Standards
ausgerichteter Kompetenz“ ist etwas ganz anderes als der Wunsch, einen Beitrag zur sozialen Gleichheit, zum Weltfrieden oder Umweltschutz (alles Werte, die das große Ganze im Auge haben) zu
„leisten“.
Werte und Ziele
Mit unseren Werten sind Ziele verknüpft – eine weitere Art, das, was wir im Leben anstreben, zu messen und einzuordnen. Auch Ziele kann man in einem Kreisdiagramm gruppieren, je nachdem, wie
verträglich oder unverträglich sie miteinander sind. Zwei dieser Gruppen – intrinsische und extrinsische Ziele – sind besonders wichtig und treten ebenfalls quer durch alle Kulturen auf.
Der Unterschied zwischen intrinsischen und extrinsischen Zielen ähnelt dem zwischen Ich-überschreitenden und Ich-bezogenen Werten. Auch wenn die Klassifikationen von Werten und Zielen nicht
komplett austauschbar sind, wollen wir der Einfachheit halber beides zusammenfassen und auch von intrinsischen und extrinsischen Werten sprechen. Extrinsische Werte zielen auf Zustimmung oder
Belohnung von außen, mit intrinsischen werden eher Dinge verfolgt, die ihren Lohn in sich selbst tragen.
*Quellenangaben und Fußnoten finden sich aus technischen Gründen nur in der PDF-Version des Handbuchs.
Was im Streben nach Veränderung regelmäßig vernachlässigt wird, sind die Wertesysteme, mit denen sich Menschen leiten lassen. Werte sind mächtige Triebkräfte, die hinter vielen unserer
Haltungen und Verhaltensweisen stecken. Wenn wir diese Werte genauer untersuchen, stoßen wir auf tiefgreifende Verbindungen zwischen scheinbar unterschiedlichen Problemen. Und wir finden eine
Fülle von Möglichkeiten, Dinge von Grund auf und dauerhaft zu ändern.