WIE SICH WERTE VERÄNDERN*


Jeder Mensch trägt jeden der schon erwähnten Werte in sich und ist von allen ihnen beeinflusst; wir unterscheiden uns nur darin, wie stark wir jeden dieser Werte vertreten. Das wiederum hängt damit zusammen, wie unsere Werte im Laufe des Lebens geprägt wurden.




Wiederholte Aktivierung von Werten wird sie mit der Zeit in uns festigen. Das Leben bietet also beständig Gelegenheit – wie auch Beschränkungen –, bestimmten Werten zu folgen und sie zu entwickeln. Darüber hinaus sind auch unsere Erfahrungen nicht wertfrei. Eine Schule, die den Unterricht offen angeht, unterschiedliche Standpunkte akzeptiert, die Schüler als Gleichrangige behandelt und ihre Unabhängigkeit fördert, wird wahrscheinlich intrinsische Werte verstärken. Im Gegensatz dazu wird eine Schule, in der unhinterfragter Respekt vor dem Lehrer großgeschrieben und harte Strafen verhängt werden, eher Werte aus den Gruppen Sicherheit, Tradition und Konformität aktivieren. Ein Jurastudium in Amerika kultiviert, wie es aussieht, extrinsische Werte und mindert das Wohlbefinden der Studierenden während der Studienzeit, und bestimmte Arten konfessioneller Schulen pflegen eindeutig Traditions- und Sicherheitswerte.


Unser Erleben verschiedener Aspekte der Gesellschaft trägt dazu bei, bestimmte Werte zu festigen. Gemeindezentren und Kirchen, Gewerkschaften, Bibliotheken, Sportvereine – Institutionen, die wir miteinander teilen und als dem Gemeinwohl förderlich ansehen – können unser Bewusstsein für die Wichtigkeit von Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Freundschaft erhöhen. Wälder und Parks können unser Naturverständnis und andere intrinsische Werte befördern. Extrinsische und sicherheitsbezogene Motive können durch eine wettbewerbs­ orientierte Arbeitsumgebung verstärkt werden, durch Werbung, die an das Statusgefühl appelliert, durch Medienberichte über nationale Sicherheit und mutmaßliche Feinde und durch die Darstellung finanzieller Erfolge als Leistung, wie sie in Milliardärslisten, dem Bruttoinlands­ produkt als Hauptindikator für das Vorankommen eines Landes und der Promi- und Modekultur zum Ausdruck kommt.


Unsere Vorstellungen davon, was „möglich, wünschenswert und normal ist“, wandeln oder verfestigen sich dadurch, wie wir Institutionen und Politik erleben, die ihrerseits zum Teil von gesellschaftlichen Wertvorstellungen geprägt sind; ein Vorgang, der als policy feedback (gesellschaftliche Rückkopplung) bekannt ist. Antidiskriminierungsgesetze und Jedermanns­ rechte, kostenlos zugängliche Museen und die staatliche Rentenversicherung können Möglich­ keiten schaffen (und Grenzen setzen), durch die intrinsische Werte gefördert werden. Auch die Konsumkultur, wenn man ihr ausgesetzt ist, stellt eine Art gesellschaftlicher Rückkopplung dar: Große Teile der kommerziellen Werbung und Vermarktung wirken sich auf gesellschaftliche Wertvorstellungen aus, indem sie den Materialismus fördern und Wünsche nach Sicherheit, Konformität oder Selbstwerterhöhung nähren. Wenn Politik, Institutionen und Kommunikation bestimmte Werte verkörpern, werden sie mit der Zeit diese Werte und entsprechende Verhaltensweisen beim Empfänger entwickeln (und gegensätzliche Werte schwächen). Wer also darauf spekuliert, dass Menschen für Status und Reichtum zu haben sind, ermutigt sie eventuell, sich weniger umweltbewusst zu verhalten und sich weniger um andere zu sorgen.


→ Faktoren, von denen wir und andere glauben, dass sie die Wertvorstellungen von Menschen beeinflussen (und etliche, von denen es erwiesen ist)


Wie sich Werte historisch gewandelt haben
Überall auf der Welt wurden zu verschiedenen Zeiten weitreichende, allumfassende Werteverschiebungen beobachtet, die man verschiedenen Ursachen zugeschrieben hat. In der Tschechischen Republik haben sich die Wertvorstellungen in der Übergangszeit nach dem Ende der kommunistischen Ära deutlich gewandelt: von Eigeninteresse und Werten der Beständigkeit (bestärkt durch geringes soziales Vertrauen und die Wichtigkeit konformen Verhaltens) hin zu einer viel größeren Bedeutung intrinsischer, das Ganze betrachtender und die Selbstbestimmung hervorhebender Werte. Dieser Wandel wurde auf verschiedene Faktoren zurückgeführt: dass mehr junge Leute die Universitäten besuchen, neue Technologien im Vormarsch sind und dass sich der politische Diskurs „ganzheitlichen“ und sozialen Werten wie „soziale[r] Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden, Umweltschutz, Ehrlichkeit und Vergebung“ zugewandt hat.


Eins der deutlichsten Beispiele für die Wirkung des policy feedback ist die gewandelte Haltung der Ostdeutschen zum gemeinschaftlichen Gesundheitswesen, zu Sozialleistungen und der Umverteilung von Reichtum nach der deutschen Wiedervereinigung, während die der Westdeutschen gleich blieb. Ähnlich wird oft gesagt, dass sich die Wertvorstellungen der Briten im Gefolge des Zweiten Weltkriegs gewandelt haben, nämlich durch dessen gleichmachende Auswirkungen – Rationierung, Wehrpflicht, Abschaffung der ersten Klasse in Zügen, Evakuierungen, gemeinsame Luftschutzbunker –, durch den damit entstehenden Glauben an die Rolle des Staats als Dienstleister und durch die gemeinsamen Anstrengungen des Wiederaufbaus.


Auch nach einzelnen Ereignissen wurden auffällige Einstellungswandel beobachtet, die auf eine Werteverschiebung hindeuten. So begannen junge Mädchen auf den Fidschi-Inseln drei Jahre nach der Einführung des Fernsehens (die in eine Phase raschen sozialen Wandels fiel), sich stärker mit ihrem körperlichen Erscheinungsbild zu beschäftigen und mit anderen zu vergleichen – Merkmale, die direkt mit extrinsischen Werten zusammenhängen – und auch Essstörungen nahmen dramatisch zu. Nach Terroranschlägen wie in Oklahoma City 1995, am 11. September 2001 in New York und am 7. Juli 2005 in London wurde bei Kindern und Erwachsenen eine Zunahme von sicherheitsbezogenen und Abnahme von „Abenteuer“-orientierten Werten“ dokumentiert.


Auch gesellschaftliche Gruppen, ob sie es wollen oder nicht, beeinflussen zwangsläufig die allgemeinen Wertvorstellungen. Das betrifft nicht nur die Medien, sondern auch Unternehmen und politische oder soziale Bewegungen. Abolitionismus-, Frauenrechts- und Arbeiterbewegungen haben – natürlich neben ökonomischen und sozialen Faktoren – eine wichtige Rolle bei der Verankerung von Werten wie Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit in Politik, Recht und Gesellschaft gespielt. Zwischen 1968 und 1971 stieg der Stellenwert der Gleichberechtigung unter verschiedenen Werten bei US-Bürgern vom siebenten auf den dritten Platz, wie eine Studie zeigt. Bewirkt habe dies hauptsächlich die Bürgerrechtsbewegung. Auch in der Türkei gibt es Anzeichen dafür, dass sowohl die feministische als auch die islamistische Frauenbewegung trotz anhaltender politischer, sozialer und religiöser Hindernisse großen Einfluss auf Werte und Diskurs der Landespolitik haben. Ihr fortgesetzter Kampf gegen die Benachteiligung der Frauen, gegen häusliche Gewalt und für Mitbestimmung und Schutz aller Bürgerinnen und Bürger hat Gesetzgebung und politische Einstellungen nachhaltig geprägt.


Es ist leicht einzusehen, warum all dies für die Arbeit an den Aufgaben, die uns am Herzen liegen, von Bedeutung ist: Werte prägen Institutionen und Normen und umgekehrt. Die Werte, auf die wir uns berufen, die Möglichkeiten, die wir schaffen, Werten Ausdruck zu verleihen und die Strategien, die wir dafür entwickeln, werden also bestimmte Arten von Werten befördern, und das wiederum hat großen Einfluss auf unser aller Denken und Handeln.


 

* Quellenangaben und Fußnoten finden sich aus technischen Gründen nur in der PDF-Version des Handbuchs.